Wie viel Unmittelbarkeit braucht unser Strafverfahren? – Möglichkeiten und Grenzen von Beweistransfers

Für den Strafrechtswissenschaftler Franz von Liszt war der Grundsatz der Unmittelbarkeit eine der wichtigsten Prozessmaximen des Strafverfahrens. Danach sollen diejenigen Personen, die zu dem aufzuklärenden Geschehen Wahrnehmungen gemacht haben, selbst in der Hauptverhandlung als Zeugen angehört werden. Der Vorrang des Personalbeweises durch unmittelbare Ver­ nehmung ist auch heute noch in der Vorschrift des § 250 StPO verankert. Dennoch kann man eine Erosion des Unmittelbarkeitsgrundsatzes feststellen. Schon vor den jüngsten Reformen zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens (2017) und zur Modernisierung des Strafver­ fahrens (2019) waren so viele Ausnahmen durch Gesetz und Rechtsprechung eingeführt, dass die Maxime in akademischer Idealform womöglich zu keiner Zeit gültig war.

Insbesondere die früher nicht vorhandene Möglichkeit, Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren in Bild und Ton aufzuzeichnen und diese Aufzeich­ nung in der Hauptverhandlung vorzuführen, kann zur Prozessbeschleunigung beitragen, indem eine zweite Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung vermieden wird. Die Vorführung der Aufzeichnung könnte die Zeugenaussage zudem möglicherweise authentischer wiedergeben, als die Verlesung des Proto­ kolls oder die Vernehmung des Vernehmungsbeamten, was unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist. Außerdem würde es insbesondere denjenigen Zeugen, die durch Straftaten verletzt wurden, die Wiederholung einer oft als schmerzhaft empfundenen Vernehmung in öffentlicher Hauptverhandlung ersparen.

Andererseits darf das Ziel des Strafverfahrens nicht aus dem Blickfeld geraten, mittels eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens die Wahrheit zu erforschen. Das Konfrontationsrecht des Beschuldigten und seiner Verteidigung darf nicht zugunsten der Prozessökonomie beschnitten werden. Eine kritische Über­ prüfung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens in der Hauptverhandlung dient außerdem der Absicherung der Wahrheitsfindung und damit der Legiti­ mität des Urteils. Kritiker des dahingehenden Reformprozesses befürchten, die Transparenz und letztlich die Bedeutung der Hauptverhandlung könnten insgesamt Schaden nehmen, wenn Gesetz und Rechtsprechung noch weiter­ gehend als bisher zulassen, dass Ergebnisse aus dem Ermittlungsverfahren unter Verzicht auf die unmittelbare Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Die strafrechtliche Abteilung wird sich mit diesen spannenden Fragen zum Kernbereich des Strafverfahrensrechts beschäftigen.

Rechtsanwältin Anke Müller-Jacobsen, Berlin (Vorsitzende)

Anke Müller-Jacobsen, Rechtsanwältin in Berlin. Nach dem Studium an der FU Berlin hat sie 1988/1991 die juristischen Staatsexamina abgelegt. Von Anfang an hat sie sich auf die Strafverteidigung konzentriert, inzwischen mit Schwerpunkt Wirtschaftsstrafrecht. Mit sieben anderen Rechtsanwälten führt sie eine strafrechtlich ausgerichtete Anwaltssozietät am Berliner Gendarmenmarkt. Von 1999 – 2012 war sie Vorstandsmitglied und ab 2007 Vizepräsidentin der RAK Berlin. Von 2012 – 2019 war sie Richterin des Verfassungsgerichtshofes Berlin. Weiterhin ist sie u.a. Mitglied im Strafrechtsausschuss der BRAK sowie der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages. Sie veröffentlicht gelegentlich in Fachzeitschriften und in Festschriften über strafrechtliche, strafprozessuale und berufsrechtliche Themen. Sie ist verheiratet – zusammen haben sie drei erwachsene Kinder. Sie joggt, fährt gern Fahrrad und im Winter Ski. Mit Engagement singt sie in einem ambitionierten Kirchenchor.

Richter des BVerfG Prof. Dr. Henning Radtke, Karlsruhe/Hannover (Stv. Vorsitzender)

Geb. 1962, in Lübeck. Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen, dort auch Promotion (1993) und Habilitation(1997) – Verleihung der Lehrbefugnis für die Fächer Strafrecht und Strafprozessrecht. Zwischen 1999 und 2012 Inhaber von strafrechtlichen Lehrstühlen an der Universitäten Saarbrücken, Marburg und Hannover, Rufe nach Bayreuth und Graz. Seit 2001 bis 2012 (mit Unterbrechungen) Richter am OLG im 2. Hauptamt (Oberlandesgerichte Saarbrücken und Celle). Seit Oktober 2012 Richter am BGH (1. Strafsenat) und Honorarprofessur an der Universität Hannover. Seit Juli 2018 Mitglied des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Von 2009 bis 2013 Vorsitzender des Deutschen Juristen-Fakultätentages. Er ist Mitherausgeber der NStZ und eines Kommentars zur StPO sowie Autor im Münchener Kommentar zum StGB zu zahlreichen Vorschriften des AT und BT sowie des JGG.

Prof. Dr. Ingeborg Zerbes, Wien (Stv. Vorsitzende)

ist Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien. Von 2011 bis 2019 war sie Professorin für Kriminalwissenschaften (deutsches, europäisches und internationales Strafrecht), Kriminologie und Kriminalpolitik an der Universität Bremen und Leiterin des Bremer Instituts für Kriminalwissenschaften. Ingeborg Zerbes wurde an der Uni Wien promoviert und habilitiert („Spitzeln, Spähen, Spionieren Sprengung strafprozessualer Grenzen durch geheimen Zugriff auf Kommunikation“) und hat dort ihre wissenschaftliche Grundausbildung absolviert. 1997-2005 war sie außerdem Österreich-Referentin am MPI für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, 2000 bis 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Basel und 2005-2008 Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In diese Zeit fallen Forschungsaufenthalte am MPI in Freiburg, an der Universität Basel und an der Hofstra University New York. Seit November 2011 war Ingeborg Zerbes Strafrechtsprofessorin an der Universität Bremen, seit Juni 2017 Studiendekanin. Sie ist Mitherausgeberin des European Criminal Law Review und der Kritischen Justiz und ist Mitglied der European Criminal Policy Initiative. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Europäischen- und Internationalen Strafrecht, im Wirtschaftsstrafrecht und im Strafprozessrecht.

Prof. Dr. Mark Deiters, Münster (Gutachter)

Studium in Bonn (1990 bis 1994); wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Helmut Frister an der Heinrich-Heine-Universität (1994 bis 1997); Referendariat und Grundwehrdienst in Düsseldorf (1997 bis 2000); 1999 Promotion an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; anschließend wissenschaftlicher Assistent an der Universität Düsseldorf (2000 bis 2006); 2006 Habilitation; seit Ende 2006 Universitätsprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Münster und nebenberufliche Tätigkeit als Strafverteidiger und Berater.

Vors. Richterin am BGH Gabriele Cirener, Leipzig (Referentin)

Ltd. Oberstaatsanwalt Prof. Dr. Georg-Friedrich Güntge, Schleswig/Kiel (Referent)

1984 bis 1990 Studium der Rechtswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; ab 1990 Doktorand (Lehrstuhl Prof. Dr. Heinz Wagner); 1993-1996 Referendar im Bezirk des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts; 1995 Promotion zum Dr. jur.; seit 1996 Staatsanwalt (1996-2000 Staatsanwaltschaft Rostock, 2000-2003 Staatsanwaltschaft Flensburg, 2003-2004 Abordnung an die Behörde des Generalstaatsanwalts in Schleswig); 2004-2005 Abordnung an die Behörde des Generalbundesanwalts in Karlsruhe; 2005-2007 Abordnung an das Bundesverfassungsgericht (Dezernat Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hassemer); 2007-2016 Dezernent an der Behörde des Generalstaatsanwalts in Schleswig; seit 2012 Honorarprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; seit 2016 Leitender Oberstaatsanwalt als Abteilungsleiter an der Behörde des Generalstaatsanwalts in Schleswig.

Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor, Berlin (Referent)

Vorsitzende

Rechtsanwältin Anke Müller-Jacobsen, Berlin

Stv. Vorsitzende

Richter des BVerfG
Prof. Dr. Henning Radtke, Karlsruhe/ Hannover

Prof. Dr. Ingeborg Zerbes, Wien

Schriftführer

Vors. Richter am TDG Timo Walter, München

Gutachter

Prof. Dr. Mark Deiters, Münster

Referenten

Vors. Richterin am BGH Gabriele Cirener, Leipzig

Ltd. Oberstaatsanwalt
Prof. Dr. Georg-Friedrich Güntge, Schleswig/Kiel

Rechtsanwalt
Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor, Berlin

Referate

Mittwoch, 21. September
10:30 bis 11:45 Uhr

Diskussion

Mittwoch, 21. September
14:15 bis 15:30 Uhr
Donnerstag, 22. September
9:30 bis 13:00 Uhr

Diskussion und Beschlussfassung

Donnerstag, 22. September
14:00 bis 18:00 Uhr